24. Dezember 2020

Weihnachten und die Geburt der Gedanken

In der Philosophie wird ein Philosoph bis heute aufgrund seiner besonderen Gesprächskunst bewundert: Sokrates.

Sokrates pflegte auf dem Markplatz mit seinen Mitbürgern zu sprechen, indem er ihnen Fragen stellte und so in ein Zwiegespräch verwickelte, in dem der Befragte neue Gedankengänge entwickeln und zu neuen Einsichten finden konnte. Diese Gesprächstechnik nannte Sokrates “Mäeutik”, die Hebammenkunst. Dabei bezog er sich natürlich nicht auf die Geburtshilfe eines Kindes, sondern auf die Geburtshilfe eines Gedankens und ist damit der früheste Wegbereiter der Aufklärung: ,,Habe den Mut, dich deines Verstandes zu bedienen.” (Immanuel Kant) Sokrates half dem Denkenden im Gespräch, seine eigenen Gedanken zu strukturieren, diese zu formulieren und Denkfehler und Unklarheiten aufzudecken und durch neue Ideen zu ersetzen: Die Geburtsstunde philosophischen Denkens.

Auch heute feiern wir eine Geburt. In der christlichen Tradition ist Weihnachten die Geburt Jesus Christus in Bethlehem in einem Stall. Die Erlösung der Menschen beginnt mit dieser Geburt, die jedes Jahr aufs Neue so vielfältig besungen wird. Dabei wiederholt sich die Hauptmetapher des Neuanfangs: Inmitten der dunkelsten Nacht inmitten der Kälte des Winters, im ärmsten Stall erscheint das Licht, das die Welt erhellt. Es ist das Versprechen der Erlösung, das Versprechen des Neuanfangs, das Versprechen, nicht mehr allein zu sein, das Versprechen, dass etwas besser werden wird. Und gespannt erwarten die Hirten und Könige, was dieses Kind einmal für die bereithalten wird.

Auch in uns breitet sich manchmal diese Dunkelheit aus, diese innere Kälte, die Traurigkeit angesichts dessen, was uns in Zeiten des Verzichts verwehrt bleibt. Wir sehnen uns nach dem Neuanfang, nach dem positiven Ausblick, danach, die Welt in einem neuen Licht sehen zu können. Die erste Veränderung liegt darin, die Perspektive zu wechseln: Das Glas ist halb voll. Rio Reiser singt mit Ton, Steine, Scherben: “Wenn die Nacht am tiefsten ist, ist der Tag am nächsten.” und nimmt damit den Ausdruck der Hoffnung im Perspektivwechsel auf: Mitternacht bedeutet nicht Verlorensein, sondern, dass die Hälfte des Weges bereits geschafft ist. In allen Kulturen dieser Erde werden Lichterfeste gefeiert – meist in der dunkelsten Zeit des Jahres.

“Es ist ein Ros entsprungen/ Aus einer Wurzel zart” heißt es in einem bekannten Weihnachtslied aus dem 16. Jahrhundert. Die Verkündung des Neuanfangs wird herausgesungen. Jede Rose entspringt einer zarten Wurzel. Jede Veränderung entspringt einem ersten Gedanken, der wie ein kleines Licht im Dunkel wirkt. Nehmen wir dieses Weihnachten, an dem wir alle etwas Liebgewonnenes schmerzlich vermissen werden, zum Anlass, neue Ideen zu gebären. Entscheiden wir sorgsam, welche zarten Wurzel wir für das kommende Jahr in unserem Garten pflanzen wollen. Welche Früchte wollen wir ernten? Welche Gedanken sollen sich in Taten verwirklichen? Welche Hoffnungen sollen sich erfüllen?

Welcher Gedanke erfüllt mich selbst mit Licht?

 

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